Freiheit ist relativ
(12.2.2003)
Siebter Berlinale-Tag: Fahnen auf Halbmast, Pascal Bonitzers "Petites
Coupures" und Spike Lees "25th Hour"
Von Hartmut Burggrabe
Cut. Der Tod und das Sterben spielen dieses Jahr in auffallend vielen
Filmen eine wichtige Rolle. Und nun das: Mitten im Festivalgewühl, in der
Hotellobby des Grand Hyatt, bricht eine der strahlenden Figuren des
europäischen Films, der französische Produzent Daniel Toscan du Plantier,
tot zusammen. Toscan du Plantier arbeitete mit Truffaut und Fellini, war
bis zuletzt hoch aktiver Präsident der staatlichen französischen
Filmagentur Unifrance, eine der treibenden Kräfte bei der Gründung der
Deutsch-Französischen Filmakademie. Die Branche reagierte heute bestürzt,
die Berlinale-Flaggen wurden für einen Tag auf Halbmast gesetzt. Es ist
gewiß nur ein klitzekleiner Trost, aber der Gedanke, als
leidenschaftlicher Cineast auf einem Filmfestival zu sterben, erinnert
doch an den Wunschtod vieler Theaterleute oder Musiker: den letzten
Atemzug auf der Bühne auszuhauchen.
Auch auf einer anderen Ebene bricht die Wirklichkeit außerhalb der dunklen
(Alb-) Traumpaläste immer wieder in dieses Festival ein. Inzwischen kann
man die - insbesondere US-amerikanischen - SchauspielerInnen und
Regisseure kaum mehr zählen, die die Berlinale zum Forum nehmen, um ihren
Protest gegen die gegenwärtige Außenpolitik der Bush-Regierung kundzutun.
Richard Gere, Steven Soderbergh, George Clooney, Nicolas Cage, Ed Harris,
um nur die populärsten zu nennen. Immer wieder wird betont, daß auch die
amerikanische Bevölkerung gespalten ist; immer wieder wird den
"Alt-Europäern", besonders Frankreich und Deutschland, für ihre
Antikriegsposition gedankt. Highlight in dieser Reihe war nun sicherlich
die leidenschaftliche Rede von Dustin Hoffman, in der er, bei einer Gala
unter dem Titel "Cinema for Peace", die Irakpolitik der US-Administration
angriff und zu Skepsis und eigenständigem Denken aufforderte: "Schon der
Vietnamkrieg begann mit einer Lüge. Jetzt könnte es wieder so laufen." Von
vorgeschobenen Begründungen für einen Krieg sprach Hoffman, von fehlenden
Konzepten für die Nahostregion. Auch er selbst fühle sich von dieser
Politik nicht nur nicht vertreten, mehr noch: bedroht. Regisseur Spike
Lee, der heute seinen Film "25th Hour" vorstellte, redete sich ebenfalls
in Rage. "Amerika hat nicht das Recht, irgendjemandem etwas zu diktieren."
- "Normalerweise", so Lee später, "versuchen Politiker, ihre dunklen
Machenschaften wenigstens im Geheimen abzuwickeln. Bush und seine Leute
scheinen das gar nicht für nötig zu halten. Das begann schon mit dem
Amtsantritt, als vor den Augen der Weltöffentlichkeit Wahlergebnisse
gefälscht wurden."
Filme
stehen aber weiter im Mittelpunkt des Festivals, trotz oder gerade
wegen der widrigen äußeren Umstände. Heute gab es im Wettbewerb etwa
Pascal Bonitzers "Petites Coupures" (Kleine Wunden). Bonitzer,
langjähriger Stammautor für Jaques Rivette (z.B. "Die schöne Querulantin",
1991) und Andre Techiné, wurde mit seinem dritten Spielfilm als Regisseur
zur Berlinale geladen. Es geht um Bruno (Daniel Auteuil), einen
kommunistischen Journalisten, der, Mitte Vierzig, plötzlich nicht mehr
richtig Fuß fassen kann. Seine schöne Frau verläßt ihn, weil er ihr untreu
war, doch auch die Affäre ist wenig später vorbei. Brunos Onkel Gérard
bittet ihn um einen Besuch, also fährt Bruno in die Kleinstadt, nur um
festzustellen, daß auch im Haus des Onkels Einiges im Argen liegt. Gérard
wird von seiner Frau betrogen und Bruno wird mit einem Auftrag
losgeschickt: er soll dem Liebhaber einen Drohbrief überbringen. Diese
Fahrt nun führt Bruno erst richtig in den Nebel. Im Haus des Liebhabers
trifft er überraschend einen alten Kollegen, außerdem den kranken
Hausherrn selbst - und die attraktive, etwas sprunghafte Béatrice (Kristin
Scott Thomas). Bruno beginnt sich zu verlieben und weiß doch ständig
nicht, woran er gerade ist. Bei Béatrice, aber auch bei sich selbst. Das
alles ist im französischen Stil unspektakulär erzählt, wir folgen den
Irrungen und Wirrungen Brunos mal hierhin, mal dorthin. Es ist immer
schön, Daniel Auteuil, Kristin Scott Thomas oder Ludivine Sagnier (die die
Brunos junge Geliebte spielt) auf der Leinwand zu sehen. Nur ist die
Geschichte, die Dialoge, die Kamera bei Bonitzer so uninspiriert, daß man
einfach nirgends haften bleibt. Die immer wieder aufblitzende Komik kann "Petites
Coupures" auch nicht retten. Das Talent der Schauspieler - verschenkt.
Anders bei Spike
Lee. "25th Hour" begleitet Monty Brogan an seinem letzten Tag
in Freiheit. Der junge New Yorker wurde als Drogendealer verpfiffen und
muß morgen seine sieben Jahre Haft antreten. Vorher will Monty (Edward
Norton) aber nochmal einigen wichtigen Menschen einen Besuch abstatten,
noch einmal seinen Vater treffen, mit seinen alten Freunden noch einmal
eine Nacht draufmachen. Sein Hund begleitet ihn diese 24 Stunden lang,
seine Freundin Naturelle (Rosario Dawson) hält Monty auf Distanz, denn wer
weiß, vielleicht hat sie ihn verraten. Das ist es, was er noch vor dem
Knast klären will: wem er diese sieben Jahre zu verdanken. Wenn es
überhaupt sieben werden. Als ganz gut aussehender junger Weißer, das wird
ihm mehrfach prophezeit, wird das Gefängnis für Monty die Hölle werden.
Parallel zu Monty sehen wir seine besten Freunde aus alten Tagen: Frank
(Barry Pepper), inzwischen ein Börsenyuppie mit reichlich Machoallüren,
der Montys Strafe für gerechtfertigt hält und seinem Freund trotzdem zur
Seite steht. Und Jake (Philip Seymour Hoffman), der, etwas gehemmt, an
einer Highschool Literatur unterrichtet und mit sich zu kämpfen hat, um
der offensiven Attraktivität einer seiner Schülerinnen (Anna Paquin) nicht
zu erliegen. Die drei stürzen sich also noch einmal gemeinsam in die
Nacht. Die Einschnitte des 11. September sind in diesem New York zu
spüren, ganz konkret an 'Ground Zero', aber auch seelisch in der
Verunsicherung mancher Figur. Es gibt schwächere Sequenzen, aber auch
einige starke Szenen, etwa eine wütende Schimpfkanonade Montys auf all die
'Asozialen' dieser Stadt, die am Ende des Monologs auf ihn selbst
zurückfällt. Oder die ironisch bebilderte Vision, die Montys Vater
entwirft für ein Leben nach einer Flucht. Monty muß erkennen, er hat
Fehler gemacht, er selbst ist verantwortlich, und dennoch bleibt die
Angst, das Gefängnis nicht zu überleben. So sind die 24 Stunden davor ein
letzter Tanz auf dem Vulkan. Noch einmal beschworene Freundschaften stehen
dennoch in Frage: werden sie wirklich überdauern? Und was, wenn Monty
wirklich wieder rauskommt - gibt es für ihn eine Perspektive? Mit rauen
Bildern, einem packenden Edward Norton, einem vielleicht etwas zu coolen
Soundtrack und einem skeptischen Blick auf Schein und Sein
US-amerikanischer Alltagsmythen erzählt Spike Lee (Malcolm X, It's
Showtime) diese Geschichte einer modernen Galgenfrist. Ob das Thema jeden
anspricht, ist die Frage. Gut gemacht ist "25th Hour" schon.
Zum Berlinale-Überblick...
Petites
Coupures
von Pascal Bonitzer -
Frankreich/GB 2002, 95
min |
°° |
mit
Daniel Auteuil, Kristin Scott Thomas, Ludivine Sagnier, Pascale
Bussières, Jean Yanne, Hanns Zischler |
was
bedeutet
unsere Wertung? |
25th Hour
von Spike Lee - USA 2002, 135
min |
°°° |
mit
Edward Norton, Philip Seymour Hoffman, Barry Pepper, Rosario Dawson,
Anna Paquin, Brian Cox, Tony Siragusa |
was
bedeutet
unsere Wertung? |
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