BERLINALE Hommage

 

Das erzählende Gesicht
(14.2.2003) Ehren-Bär für Anouk Aimée und Uraufführung ihres neuen Films "Birkenau und Rosenfeld"

Von Hartmut Burggrabe

Dieses Gesicht bleibt haften. Als ich zum ersten Mal Fellinis "La Dolce Vita" gesehen habe, wollte ich danach unbedingt wissen, wer diese geheimnisvolle Frau war, die Marcello Mastroianni an einer Bar der römischen Fünfziger-Jahre-Schickeria trifft, die seine Begleiterin wird in den folgenden Stunden. Anouk Aimée, die Grande Dame des französischen und italienischen Films der Nachkriegsjahrzehnte, wurde nun auf der Berlinale mit einem Goldenen Bären für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Mit "La Dolce Vita" und "Achteinhalb" (ebenfalls von Fellini) wurde sie an Mastroiannis Seite bekannt, Jaques Demy setzte ihr mit "Lola" ein Denkmal, und für Claude Lelouchs "Ein Mann und eine Frau" schließlich (1966, mit Jean-Louis Trintignant als Partner) regnete es Ruhm und Preise, unter anderem eine Oscar-Nominierung und einen Golden Globe als Beste Hauptdarstellerin.
In einer Hommage-Reihe, die mit dem Ehrenbären stets verbunden ist, zeigten die Berliner Filmfestspiele diese längst zu Filmklassikern avancierten Werke, aber auch unbekanntere, unentdeckte. Anouk Aimée war in ihrer Rollenwahl wählerisch. Manchmal leistete sie sich den Luxus, für ein paar Jahre von der Leinwand zu verschwinden. Die zahlreichen Angebote aus Hollywood etwa, die ihrem Triumph von 1966 folgten, lehnte sie alle ab. "Es war", so sagt sie heute, "kein überzeugendes dabei." Stiller ist es folglich um Anouk Aimée geworden. Dennoch: Aimée hat nach "Ein Mann und eine Frau" bis heute in an die dreißig Filmen gespielt. Darunter sind durchaus Perlen wie etwa Elie Chouraquis "Mon Premier Amour" (Meine erste Liebe, 1978), der auch auf der Berlinale zu sehen war. Aimée gibt hier eine gealterte Lebefrau, eine intellektuella Diva, die in absehbarer Zeit an Leukämie sterben wird. Eindringlich zeigt der Film, wie sich durch diese Nachricht das eher gleichgültig gewordene Verhältnis zwischen der Dame und ihrem (erwachsenen) Sohn, der noch in ihrem geräumigen Appartement wohnt, verändert. Wie schon in den Fellini- und Lelouch-Filmen verkörpert Aimée auch diese Frau mit einer Intensität und Präsenz, der sich wohl niemand entziehen kann. Aimées ausnehmend schönes Gesicht - diese großen dunklen Augen, die schmalen Wangen, das immer geheimnisvolle Lächeln, wußten zahlreiche Regisseure gekonnt ins Bild zu setzen. Anouk Aimée hat stets neue Varianten dieser seltsamen Mischung aus Verführung und Unnahbarkeit, überraschender Nähe und Distanz ausgestrahlt. Heute, mit 70, scheint dieses Gesicht nicht mehr glatt und unberührt wie in den frühen Jahren, stattdessen erzählt es Geschichten aus einem reichen und turbulenten Leben. Aimées Ausstrahlung ist ungebrochen. Charmant flirtet sie bei der Preisverleihung mit dem Publikum, immer aber mit der freundlichen Distanz der noblen französischen Dame.
Bei Lebenswerk-Preisen schwingt immer (zumindest unterschwellig) auch an, daß der Großteil des künstlerischen Schaffens hinter einem liegt. Betrachtet man Aimées Alter, ist dies wohl auch wahrscheinlich. Und doch gibt es noch Rollen für Anouk Aimée. In das Bewußtsein von Filmemachern scheint sie zurückgekehrt zu sein: Ein großes Publikum erreichte sie zuletzt wohl als Napoleons Mutter im aufwändigen Fernsehmehrteiler über den französischen Herrscher. Besonders gefordert war Anouk Aimée dort allerdings nicht. Ganz anders in ihrem jüngsten Film, der zum Abschluß der Hommage auf der Berlinale seine Uraufführung erlebte. Aimée wächst darin noch einmal über sich hinaus.

"La petite prairie aux bouleaux" (dt. Titel: Birkenau und Rosenfeld) erzählt von Myriam Rosenfeld (Aimée), die nach Jahrzehnten in New York nach Europa reist, zunächst nach Paris, um an einem Treffen mit Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau teilzunehmen. Myriam selbst wurde als 15jährige in das KZ deportiert und überlebte mit Glück - als einzige ihrer Familie. Das Treffen mit den alten Freundinnen aus jener grausamen Zeit im Lager ruft Erinnerungen wach und bringt manches wieder ins Rollen. Myriam beschließt, nach Krakau zu reisen, Birkenau zu besuchen. Was genau sie dort hin treibt, ist ihr nicht ganz klar. "Ich mußte", sagt sie später mal, "hierherreisen, damit ich Birkenau endlich wirklich verlassen kann." Das Wiedersehen mit den alten Schlafräumen, den Wachtürmen, den Bahngleisen, den Resten des Krematoriums ist schmerzhafter als Myriam erwartet hatte. Einige Tage wird sie bleiben. Alleine streunt sie über das mit hohem Gras überwachsene Lagergelände. Allein in ihrem Gesicht, an einigen wenigen Worten und Gedanken, an Blicken und Gesten sehen wir Myriams Erinnern, Myriams Kampf mit Erinnerungen, die sich aufdrängen, und anderen, die zu tief im Nebel versunken sind. Und dann trifft sie einen jungen Fotografen aus Deutschland (wieder großartig: August Diehl), der im Lager nach den Spuren der Ereignisse sucht, der - sein Großvater war ein SS-Kommandant - diese Vergangenheit einfangen, festhalten, darstellen will. Myriam ist die erste Überlebende, die der Fotograf trifft, und erschüttert bittet er darum, sie durch das Lager begleiten zu dürfen.
"La petite prairie des bouleaux" (das ist die wörtliche Übersetzung dieses poetischen Namens 'Birkenau') ist ein Spielfilm, aber er dokumentiert gleichzeitig das Erleben und Nachdenken seiner Regisseurin, Marceline Loridan-Ivens. Loridan-Ivens hat selbst als Jugendliche Birkenau überlebt, und es ist umso mehr eine unglaubliche Leistung, sich diesem Thema durch die jahrelange Arbeit an diesem so persönlichen Film (der im wirklichen Lager gedreht wurde) derart zu stellen. Loridan-Ivens' Film ist nie plakativ, er verzichtet komplett auf historische Aufnahmen, Rückblenden oder Daten. Wir sehen äußerlich nur die Gegenwart, aber die Regisseurin schafft es, vor dem inneren Auge nicht nur der Protagonisten, sondern auch des Zuschauers, Bilder entstehen zu lassen, die das heutige Lager, all die Backsteinruinen, das grasüberwucherte Krematorium oder den aschenen See erst recht bitter erscheinen lassen. Mit kleinen Momenten und Gesten wird Myriams Innenleben vermittelt. Als sie zum ersten Mal zum Lager aufbricht, hüllt sie sich in sicher vier dicke Schichten von Kleidern. Denn dieses Lager ist für sie nicht vorstellbar ohne Kälte, ohne Frieren und Hunger. Als sie später mit dem Fotografen an einer Gedenkstätte vorbeifährt, steigt sie aus dem Wagen und verändert das Hinweisschild: "Muzeum Auschwitz" steht da. "Muzeum" streicht sie durch und schreibt "Camp" darüber. Unaufdringlich geschieht das alles, fast zart. Es bedarf keiner spektakulären Handlung - das schwer zu Sagende, das Unsagbare wird in dieser Reduziertheit umso spürbarer, umso klarer. Anouk Aimée ist Myriam, ihr Gesicht, ihre Gestik, ihre Sprache ist derart facettenreich, ihre Myriam hat trotz der Schwere des Ortes und der Erinnerung auch etwas Leichtes. Wie Loridan-Ivens nach der Premiere sagte: Für sie war keine andere Myriam vorstellbar als Anouk Aimée. "Birkenau und Rosenfeld" ist ein ganz anderer Film, als man sie zu diesem Thema bisher gesehen hat. Gänzlich ohne Zeigefinger, bisweilen sogar mit einem Augenzwinkern, vor allem aber mit einer immer wieder zu Tränen erschütternden Tiefe. Es ist sehr zu hoffen, daß viele Zuschauer die Möglichkeit bekommen, diesen Film zu sehen.
Und was Anouk Aimée betrifft, wünschen wir uns noch viele große Rollen für sie. Charakterrollen wie diese.


Zum Berlinale-Überblick...
 

La petite prairie aux bouleaux
von Marceline Loridan-Ivens - F / BRD / Polen 2002, 90 min

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mit Anouk Aimée, August Diehl, Marilu Marini, Zbigniew Zamachowski, Elise Otzenberger, Claire Maurier

was bedeutet
unsere Wertung?

Otto e mezzo (Achteinhalb)
von Federico Fellini - Italien / Frankreich 1963, 138 min

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mit Marcello Mastroianni, Anouk Aimée, Sandra Milo, Claudia Cardinale, Rossella Falk, Barbara Steele, Madeleine LeBeau

was bedeutet
unsere Wertung?

La Dolce Vita
von Federico Fellini - Italien / Frankreich 1959, 177 min

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mit Marcello Mastroianni, Anita Ekberg, Anouk Aimée, Yvonne Furneaux, Magali Noel, Alain Cuniy, Annibale Ninchi

was bedeutet
unsere Wertung?

Un homme et une femme
von Claude Lelouch - Frankreich 1966, 102 min

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mit Anouk Aimée, Jean-Louis Trintignant, Pierre Barough, Valérie Lagrange, Antoine Sire, Souad Amidou, Henri Chemin

was bedeutet
unsere Wertung?

Lola
von Jacques Demy - Frankreich / Italien 1960, 90 min

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mit Anouk Aimée, Marc Michel, Jacques Harden, Alan Scott, Elina Labourdette, Margo Lion, Annie Duperoux, Catherine Lutz

was bedeutet
unsere Wertung?

Mon premier amour
von Elie Couraqui - Frankreich 1978, 90 min

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mit Anouk Aimée, Richard Berry, Nathalie Baye, Gabriele Ferzetti, Jacques Villeret, Gilles Ségal, Nicole Seguin

was bedeutet
unsere Wertung?

Montparnasse 19
von Jacques Becker - Frankreich / Italien 1957, 100 min

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mit Gérard Philipe, Lilli Palmer, Anouk Aimée, Marianne Oswald, Lea Padovani, Gérard Séty, Lino Ventura, Lila Kedrova

was bedeutet
unsere Wertung?

 

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